Mitten durch Deutschland
1400 Kilometer reist Dieter Kreutzkamp mit seinem Mountainbike, seinem VW Bus und zu Fuß entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze von der Ostsee bis nach Bayern, durch einige der schönsten Regionen Europas.
Dieses Mal fand der wildniserprobte Weltenbummler das Abenteuer vor der eigenen Haustür. Die Menschen, denen er - und seine Frau Juliana - dabei begegneten, sowie die Wandlung des „Todesstreifens“ zum „Grünen Band“ - stehen im Mittelpunkt dieser einzigartigen Entdeckungsreise durch Deutschlands unbekannte Mitte. Ein Textauszug:
„… die Freiheit zum Greifen nah!“
Den knisternden Kurzwellenempfänger fest an mein Ohr gedrückt, stand ich mehr als 10.000 Kilometer von Berlin entfernt am Chimney Rock in Nebraska im Südwesten der USA. Tief in den kargen Prärieboden vor mir eingegraben die Spuren Tausender von Ochsen gezogener Planwagen, die 140 Jahre zuvor hier auf dem Oregon Trail in das „verheißungsvolle Land“ im Westen - nach Kalifornien und Oregon - gerollt waren.
Eisiger Wind fegte an diesem Spätherbsttag über die baumlose Prärie. Schutz suchend kroch ich in den Windschatten meines Campers und lauschte ungläubig den Nachrichten der Deutschen Welle über das, was im fernen Berlin geschah: der Mauerfall! Später schrieb ich mit vor Kälte und Freude zitternden Fingern unter dem 9. November 1989 in mein Tagebuch: „Deutschland steht Kopf! Die Grenze ist offen, welch unglaubliches Ereignis!“
Zwei Jahrzehnte sind seit jener Reise vergangen. Seitdem durchstreifte ich auch andere Teile der Welt, erlebte Abenteuer in Australien, Osteuropa, Afrika und Alaska und begegnete Menschen aller Hautfarben und Kulturen. Aber die ehemalige deutsch-deutsche Grenze ließ mich nicht mehr los.
Ich reduzierte meine Habseligkeiten für die Dauer eines Sommers aufs Notwendigste und machte mich auf, um zu Fuß, per Mountainbike und streckenweise auch mit meinem VW Bus jenen „Todesstreifen“ zu erkunden, der sich inzwischen zum längsten Biotopverbund Deutschlands, zu einem artenreichen grünen Band voller Leben verwandelt hat.
Stürmischer Auftakt
Bei Travemünde an der Ostsee beginnt meine 1393 Kilometer lange Reise entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Der Pfad folgt dem Lauf der Elbe, steigt über den Harz, schmiegt sich an die Werra, berührt Thüringer Wald und Fichtelgebirge und endet nahe von Hof in Bayern bei Prex an der tschechischen Grenze.
Die einstige Grenze birgt Erinnerungen an Mauerbau und Menschenrechtsverletzungen, an die völlige Hilflosigkeit eines staatlichen Systems, dem die Bürger davonliefen. Um dieser Fluchtbewegung einen Riegel vorzuschieben, richtete die DDR diesen Überwachungsstreifen ein. Die Betonstraße im Sperrgebiet, von dem aus die „Staatsgrenze West“ abgeschottet und lückenlos überwacht wurde, erhielt Bezeichnungen wie „Plattenweg“ oder „Kolonnenweg“.
Aus Sicht der Naturfreunde, Mountainbiker und Wanderer ist ihre Existenz ein Glücksfall. Was von ihr übrig blieb, ist heute ein Wanderweg, ein Trail durch einige der stillsten, schönsten und an Naturvielfalt reichsten Regionen Deutschlands.
Ausgezeichnet mit dem „Oscar der Natur“
An einem kühlen, klaren Frühlingsmorgen schoben wir im niedersächsischen Bleckede unsere Fahrräder auf die Fähre, die uns auf die östliche Elbseite nach Neu Bleckede bringen sollte. Der Himmel war blau und wolkenlos, nur ein zartes Schleierwölkchen driftete über den Horizont im Osten. Der Dieselmotor der blau-weißen Fähre brummte, wir legten ab und ließen das vom Frühjahrshochwasser noch immer umspülte Bleckeder Fährhaus zurück.
Vor uns auf dem Deich von Neu Bleckede erkannten wir einen der wenigen noch verbliebenen eckigen Kontrolltürme, ein „Führungspunkt“, wie er im Sprachgebrauch der Grenztruppen hieß. Daneben zwei massige rote Klinkerbauten, die sich wie Schutz suchend hinter den Deich duckten. Kräftiger Wind zerzauste das Haar. Wir legten an, gingen von Bord, in Minutenschnelle war die Fähre beladen und fuhr wieder auf den Strom hinaus.
So klar und unmissverständlich wie nirgendwo sonst definierte die Elbe zwischen Lauenburg und Schnackenburg rund 40 Jahre lang den Verlauf der innerdeutschen Grenze. Dabei ist sie kein disziplinierter Fluss, der sich in eine feste Form pressen lässt. Zur Zeit des Frühjahrshochwassers ufert sie aus, nimmt schon mal das Zweifache ihrer normalen Breite an, modelliert dort, wo gestern noch Wiesen und Weiden waren, kleine Inseln und Buchten. Diese wechselnden Wasserstände und Rhythmen bestimmen den Naturraum, das Leben von Mensch und Tier. Ein Naturparadies!
Grenztragödien und ein zerrissenes Dorf
Etwa dort, wo der Naturpark Drömling spitz nach Westen ragt, liegen die Orte Zicherie und Böckwitz: durch Mauer, Stacheldraht und Todesstreifen einst voneinander getrennte Nachbardörfer - ein Szenario, wie es die wilde Fantasie eines Hollywood-Autors nicht gespenstischer hinbekäme.
Früher kamen die Fernsehteams aus ganz Europa hierher und bauten Scheinwerfer auf, um das düstere Bild ins rechte Licht zu rücken, Minister hielten Reden, Außenminister Genscher pflanzte einen Baum, der Bundespräsident legte einen Kranz nieder.
Von jeher verstanden sich Böckwitz und Zicherie als Doppelort. „Und durch den verlief schon früher eine Grenze, nämlich zwischen den Königreichen Preußen und Hannover“, erzählt uns Willi Schütte aus Böckwitz. „Aber die war nur ein Strich auf der Landkarte …“
Da bot sich ein anderes Bild, als die DDR ihre Grenze durchs Doppeldorf immer dichter, höher, unüberwindlicher machte, Zäune und sogar eine nachts beleuchtete Mauer zog und mitten im Dorf einen Todesstreifen anlegte. Ein Albtraum, der Familie, Freunde, kurzum alles trennte.
Die Mauer verhinderte Blickkontakt. Psychoterror pur! Die Grenze zerschnitt jetzt auch Familien, die vorher alles gemeinsam genutzt hatten: Schule, Molkerei, Schmiede, Schlosserei, Bäckerei, alles war drüben in Böckwitz, selbst der Schuster.
Willi Schütte stemmte sich nach der Wende gegen das Vergessen. Am 11. August 1953 war der 14-Jährige in den Westen geflohen. „Der Druck war unerträglich geworden. Es hatte damit begonnen, dass meine Mutter auf unserem Hof untergebrachten Flüchtlingen ein paar Kilo von unserer Kartoffelernte von 500 Zentnern abgegeben hatte. Die Kommunisten kamen dahinter und verurteilten meine Mutter wegen ‚Diebstahls von Volkseigentum’ zu zwei Jahren Zuchthaus.“ Er lacht bitter. „Dabei waren es Kartoffeln von unserem eigenen Hof gewesen!“
Auf Fotos zeigt Willi Schütte, wie es damals nach dem Krieg hier zuging: „Das war unsere Gastwirtschaft. Die Grenze ging mittendurch, das heißt genau genommen: durch den Stall, die Kneipe selbst lag in der DDR, die Toilette in Westdeutschland. Viele gingen ‚mal eben’ aufs Klo, öffneten das Fenster und türmten in den Westen.“ Doch die DDR-Organe waren humorlos, rissen dieses Gebäude sowie andere Bauernhöfe ab und bauten dort, wo früher bei Tanz und Bier fröhliches Miteinander angesagt war, Todesstreifen und Mauer.
Mit „Brocken-Benno“ auf den „höchsten Berg der Welt“
Dreimal stand er im Guinness-Buch der Rekorde, hat 75.000 Kilometer und 2,7 Millionen Höhenmeter auf dem Brocken zurückgelegt. Der 76-jährige Benno Schmidt ist als „Brocken-Benno“ so etwas wie ein Maskottchen für den Harz, eine Werbe-Ikone. Wie viele Zeitungsartikel, Rundfunk- und Fernsehberichte über ihn erschienen sind, weiß er längst nicht mehr. Es waren viele.
Am 3. Dezember 2008 erklomm er zum 5546. Mal den Blocksberg. Das war auf den Tag genau 19 Jahre, nachdem Tausende Menschen mit Transparentaufschriften wie „Freier Brocken - Freie Bürger“ von Schierke und Ilsenburg kommend den Zugang ertrotzt hatten.
„Wir riefen: ‚Aufmachen, Aufmachen!’“, erinnert sich Benno. „Und plötzlich öffnete sich das Tor zum ‚höchsten Berg der Welt’, wie man den Brocken sarkastisch wegen seiner Unerreichbarkeit bezeichnete.“
Beim 5340. Brockenaufstieg war der Autor dabei
Brocken-Benno: „Manche schütteln zwar den Kopf über mich, aber denen sage ich: ‚Es gibt keinen Verrückten, der nicht noch einen Verrückteren findet, der ihn versteht.’ Ich halte es wie der Kommentator in einem Fernsehbericht, der über mich sinngemäß sagte: Es müsste mehr Menschen mit solch ’ner Macke geben. Denn all das, was ein wenig außerhalb der Norm liegt, bereichert unser Leben und ist damit auch ein Stück Kultur.“
Nur einmal hatte Benno ein Problem: Sein Knie schmerzte. „’Geh zum Orthopäden’, riet meine Frau. Der Doktor meinte, ich müsse Spritzen bekommen. Davon wollte ich nichts wissen. ‚Ich komme heute Nachmittag wieder’, sagte ich und ging. In der Zwischenzeit bestieg ich den Brocken. Als ich nachmittags zum Arzt zurückkam, waren die Schmerzen weg. Die Sache mit den Spritzen hatte sich von selbst erledigt ...“
Nach der Harzdurchquerung bestieg Dieter Kreutzkamp seinen T5 und steuerte das südliche Ende des „Grünen Bandes“ an. Und wie schon damals mit seinem legendären T1 „Methusalem“, seinem home away from home, war auch dieses Mal der VW Bus sein mobiles Zuhause, von dem aus er durch den Thüringer Wald wanderte und bis zum Endpunkt des ehemaligen Grenzwegs bei Prex in Bayern, nahe der tschechischen Grenze, radelte.